Das Fräulein Grete Meier ist traurig
Manchmal sitzen auch bei der
Grete die Tränen ganz lose. Denn manchmal wird sie von der Vergangenheit
eingeholt. Dann weint sie und möchte sich am liebsten im Bett verstecken. Heute ist wieder so ein Tag. Und weil die
Grete wusste, dass heute so ein Tag sein wird, hat sie sich freigenommen. Schließlich hat ja keiner was davon, wenn sie
den ganzen Tag nichts auf die Reihe kriegt im Büro. Arbeit soll ja ablenken,
aber bei Grete funktioniert das an solchen Tagen nicht. Da reicht ein Lied im
Radio, eine kleine Bemerkung, eine Farbe, ein Geruch und die Grete weint. Auch wenn der Tod ihrer Eltern schon sehr
lange her ist, die Grete vermisst sie jeden Tag. Die Zeit heilt alle Wunden,
haben viele ihr gesagt oder geschrieben. Grete wollte das damals nicht glauben.
Jetzt, rückblickend betrachtet, sieht sie das ebenfalls so. Die Wunden
verheilen, die offensichtlichen. Aber es bleiben Narben zurück, die immer mal
wieder aufbrechen. Sie gehören zur Grete ebenso wie die Finger an ihren Händen.
Sie haben sie geformt und zu der Person gemacht, die sie heute ist.
Tante Heidi hat heute Morgen
schon ganz früh angerufen und mit der Grete geweint. Auch mit Onkel Günther,
der immer noch im Krankenhaus liegt, hat sie telefoniert. Ein wenig konnte er
sie aufheitern durch einige Anekdoten, die er zum Besten gab, von früher. So
war es zu ihrer Jugendzeit schon gewesen. Immer wenn die Grete besonders
traurig war, hat der Onkel Günther Geschichten von früher erzählt. Und
irgendwann gelang es der Grete auch über ihre Eltern zu sprechen, ohne Tränen
und noch viel später sogar ohne einen Kloß im Hals zu haben.
Heute allerdings sah die Sache
anders aus. Es war das erste Mal in all den Jahren, wo das Fräulein Grete Meier
am Todestag alleine zum Friedhof gehen musste. Natürlich war sie schon sehr oft
alleine dort gewesen, manchmal auch mit dem Lieschen oder der Frau Korters.
Aber am Todestag immer in Begleitung von Tante Heidi und Onkel Günther.
Schon gestern Abend konnte die
Grete nicht richtig einschlafen. In solchen Nächten laufen die damaligen
Geschehnisse wie ein Film vor ihren Augen ab. Keine Chance für sie, ihn
anzuhalten. Dementsprechend gerädert fühlte sie sich auch am Morgen. Müde und
unendlich traurig. Das Frühstück ließ sie sausen, es hätte ihr ja doch nicht
geschmeckt. Stattdessen nahm sie sich die Wohnung vor, und rauchte zwei
Zigaretten mehr als sonst mit dem Herrn Heinevetter auf dem Balkon. Das lenkte
sie ein wenig von ihrem Kummer ab.
Nachmittags setzte sie sich
dann ins Autochen, steuerte ein Blumengeschäft an, kaufte eine Schale mit gelbblühenden
Pflanzen und eine große Sonnenblume. Letztere im Auftrag von Tante Heidi.
" Tu das für mich bitte Kindchen, sie mochte doch Sonnenblumen so gern."
Auf dem Friedhof war es still.
Nur Vögel zwitscherten fröhlich um die Wette, nicht ahnend welch Leid hinter
manchem Stein verborgen liegt. Die Sonne
schien auf das Grab. Grete legte die Sonnenblume mittig darauf, die Schale
stellte sie an den Rand. Dann zündete sie die Kerze an, die windgeschützt in
einem steinernen Halter verborgen war. Sie erzählte, leise vor sich hin
murmelnd, alles was in den letzten Tagen so passiert war. Und weinte. Lange.
Bis die Trauer langsam wich und einem
tiefem Gefühl der Verbundenheit Platz machte. Hände tauchten vor ihr auf. Sie
hörte die tiefe Stimme ihres Vaters, wenn er nach ihr rief und das mitunter
grelle Lachen ihrer Mutter. Und sie spürte Liebe, die ihr von beiden entgegengebracht
wurde. Ganz ruhig war die Grete jetzt. Und losgelöst von aller Trauer dieser
Welt. Und allen Tränen. Noch einmal strich sie über den Grabstein, lächelte,
drehte sich um und verließ den Friedhof. Im Autochen rauchte sie noch in aller
Ruhe eine Zigarette, bevor sie losfuhr. Nein, nicht nach Hause. Sie fuhr direkt
zu ihrem Lieblingsmittwochscafé. Gönnte sich eine Tasse Kaffee und ein großes
Stück Schokoladentorte. Auch in aller Ruhe. Dabei dachte sie an früher, an
Tante Heidi und Onkel Günther, die sich so selbstlos ihrer angenommen hatten. Ihr
Herz wurde dabei ganz warm. Der Chef schlich sich in ihre Gedanken, die Susi,
die Berta und die Heidi Seelig. Sie dachte an Eido, und an all die anderen
Kollegen in ihrer Firma. Und daran, welch nette Nachbarn sie doch hatte. Auch
wenn der Herr Heinevetter manchmal nervt, missen möchte sie ihn nicht.
Mir geht es gut, dachte die
Grete. Richtig gut. Ihre Gedanken schweiften zu Lieschen und ihrem Herrmann.
Wie schön, dass Lieschen jemanden an ihrer Seite hat und wie schön, dass trotz Herrmann das Lieschen für mich da ist, wenn ich sie brauche. Auch wenn wir oft nicht einer Meinung sind. Alles
ist gut, und alles ist richtig. So wie es jetzt ist.
Hier angekommen hielt die Grete
nichts mehr im Café. Noch nicht mal mehr Schokoladentorte. Sie wollte nur noch
nach Hause. Auf den Balkon zu Herrn Heinevetter und zum Telefon. Schließlich
hatte sie mit Lieschen noch gar nicht über den, in ihren Augen unsäglichen,
Ausgang der Wahl gesprochen.
Was Lieschen zu all dem sagt, könnt ihr spätestens morgen hier lesen ---> KLICK
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Heute habe ich mich einmal wieder sehr mit der Grete verbunden gefühlt, denn ganz ähnlich laufen meine Gedenktage ab, wenn mein Vater Geburtstag hat, der mittlerweile schon über zwanzig Jahre tot ist.
AntwortenLöschenHerzliche Grüße
Regina
Erst einmal:
AntwortenLöschenDas ist so einfühlsam und lieb geschrieben, so empathisch, dass einem beim Lesen ja fast selber die Tränen kommen.
Wer kennt sie nicht, diese Narben, die immer wieder aufbrechen, gerade auch die seelischen.
Und dann diese besonderen Tage, bei denen die Erinnerung ganz eigene Wege geht.
Ich sage immer (und habe es auch so erlebt), dass der bittere Stachel des Schmerzes irgendwann der schönen Erinnerung Platz macht, nicht mehr so sticht, weich wird. Man spürt ihn noch, aber eben ganz zart. Doch manchmal formt sich dann wieder die Spitze und man spürt den Schmerz, als sei alles gerade erst gewesen und der Verlust ist so real und überdeutlich.
Dann finde ich es richtig, dem auch nachzugeben, zu weinen, wie Grete es macht.
Einfach zulassen, diese Trauer. Sie gehört doch zum Menschen dazu, so wie die Freude, die Wut und andere Gefühle auch.
Und manchmal kann es einfach wieder befreien, diese Trauer so unmittelbar zu erleben.
Als Leser bin ich hier ganz bei Grete, fühle mich ihr nah, weil ich genau dieses Erleben auch kenne. Aber zum Glück bin ich am Ende auch irgendwie erlöst.
So wie Grete es erlebt, so fühlt es sich auch für mich gut an.
Und all die Menschen, die zählen im Leben – jeden Tag – wie die Nachbarn, der Chef, die Kollegen und Heidi und Günther vor allem und natürlich das Lieschen – wie schön, dass Grete sich auch in solch traurigen Momenten an sie erinnert.
Liebe Grüße
Enya
Frau Grete, Du Liebe,
AntwortenLöschenich kann dir nachfühlen. Weiß, wie es ist, wenn man allein mit seinen traurigen Gedanken
ist. Und ich weiß auch darum, welche Ruhe von einem Grab ausgehen kann. Nein, die Zeit heilt nicht alle Wunden. Sie macht sie milder. Und der Schmerz gehört auch zu
unserem Leben. Wir müssen ihn ertragen. Er macht uns stärker.
Einen guten Start in die neue Woche wünscht
Irmi
Ich hätte den Beitag vorher lesen sollen, er ist so schön zart und lieb geschrieben und rührt mich sehr. Jeder von uns braucht jemanden in traurigen Momenten und es ist schön, es hier so zu lesen. Danke dafür
AntwortenLöschenGeli
Liebe Grete die Geschichte hast du einfühlsam in Worte gefasst. Der Schmerz in unserer Seele macht uns stark und gibt uns neue Kraft. Auch wenn die Wunden ganz verheilen, die Narben bleiben zurück.
AntwortenLöschenLiebe Abendgrüße
Angelika
Vielen Dank, ihr Lieben. Für Zuspruch und überhaupt.
AntwortenLöschenGruß und eine Umarmung für alle vonner Grete