Dienstag, 27. Oktober 2015

Das Fräulein Grete Meier hat (keine) Masern

Das Fräulein Grete Meier hat (keine) Masern

"Masern, ach Gottchen, Lieschen schau doch nur ..." Theatralisch hielt das Fräulein Grete Meier ihren Hals samt Brustansatz in die Kamera. (Wieso eigentlich in? Man hält doch etwas davor ...)
"Grete, ich kann nix sehen. Alles undeutlich. Halt doch mal stille. Bei deiner Zappelei kann die Kamera ja kein ordentliches Bild liefern!"
Grete hörte nicht, oder wollte nicht hören. Stattdessen fummelte sie an der Kamera herum. "Gut, dass ich nicht so ein eingebautes Ding habe. Isses jetzt besser? Kannste jetzt die Flecken sehen? Ach Lieschen, die Masern. Und das in meinem Alter! Lieschen wo biste denn? Ich seh dich  nicht mehr ..." Zwei Sekunden später tauchte das Gesicht von Lieschen wieder auf dem Bildschirm auf.
"Also, echt jetzt,  ich seh doch das Grinsen, was dir noch im Gesicht hängt. Ich sterbe hier fast und du drehst dich weg. Schöne Freundin biste ...!"
Lieschen beugte sich soweit vor, dass nur ihre riesigen Augen auf Gretes Bildschirm zu sehen waren. "Grete, jetzt gehste aber zu weit. Geh in die Küche, koch dir einen Tee, rauch ne Zigarette und wennste dann wieder normal bist, dann kannste mich nochmal anrufen." Der übliche Skypeton erklang und Lieschen verschwand von der Bildfläche. 
"Also, da hört sich doch alles auf! Legt die einfach auf ... sowas ...!" Grete war verärgert. Aber nur für ein paar Minuten. Vielleicht ist ein Tee nicht schlecht bei Masern, dachte sie. Kann zumindest nicht schaden. 

Zehn Minuten später stand sie mit einer Tasse Tee auf dem Balkon. Kein Lieschentee. Nee, jetzt erst recht nicht, da bin ich eigen. Sie zündete sich eine Zigarette an und nach weiteren zehn Minuten war Herr Heinevetter im Bilde. Bestens. Allerdings reagierte er nicht so, wie die Grete es erwartet hatte. "Masern? In ihrem Alter? Wo sie mir doch mal erzählt haben, dass sie alle Kinderkrankheiten hatten, die es unter Gottes Sonne gibt? Nee, das kann nicht sein. Lassense mich mal schauen."
Grete beugte sich über das Geländer und lupfte ein wenig ihren Pullover. Aber nur soweit, dass Herr Heinevetter die Haut etwas unterhalb des Halses zu sehen bekam. Grete ist anständig. Mehr zu zeigen gehört sich nicht. Auch wenn Herr Heinevetter ein älterer Herr ist. "Und, Masern, gell, ich wusste es ...! Grete fing an zu schniefen. "Jetzt kann ich auf keinen Fall morgen die Susi besuchen. Nachher steck ich noch das Baby an!" 
Nachdem Herr Heinevetter ausgiebig die roten Flecken betrachtet hatte (ein bisschen zu ausgiebig fand die Grete im Nachhinein, als sie später wieder mit Lieschen telefonierte), hob er den Kopf und sah der Grete fest in die Augen. "Masern, keine Frage. Absolut tödlich in ihrem Alter. Kann ich ihren PC haben, samt Drucker und Scanner? Ich meine, wo sie ihn ja nun bald nicht mehr brauchen ..."
Grete sah ihn sprachlos an. "Wie tödlich ... ja was ..." Erst als Herr Heinevetter lauthals an zu lachen fing, dämmerte es ihr. "Sie ... sie ... ach rutschen sie mir doch den Buckel runter!" Grete drehte sich auf dem Absatz um und wollte in ihr Wohnzimmer verschwinden. 
"Nu wartense doch, Frau Meier. War nur Spaß. Flecken habense ja, aber keine Masern, ganz gewiss nich. Oder habense Fieber?"
Grete blieb stehen und wandte sich wieder Herrn Heinevetter zu. "Nein, Fieber habe ich nicht." Versöhnlich griff Herr Heinvetter nach ihrem Arm. "Und sonst, irgendwelche anderen Beschwerden? Juckt der Ausschlag?"
Grete, noch immer ein wenig beleidigt, zog ihren Arm zurück. "Juckt nicht, auch sonst  ist alles ok. Außer immer noch Zahnschmerzen. Obwohl mir der Arzt ja gestern den Zahn gezogen hat. Aber mit den Novalgintabletten, die er mir mitgegeben hat, geht das schon."
"Sehense Frau Meier, da ist doch schon des Rätsels Lösung. Habense mal den Beipackzettel gelesen? Meine Frau konnte Novalgin auch nicht vertragen. Hat immer schlimmen Ausschlag bekommen. Stand auch in irgendeiner Ausgabe von der Apothekendingsda. Wartense mal ... ich such die gleich mal raus. Sie wissen ja, ich hebe die alle auf!" 
Grete wusste. Insgeheim hatte sie sich immer darüber amüsiert. Jetzt war sie fast dankbar für die Sammelwut von Herrn Heinevetter. 
Nachdem sie den Artikel zusammen mit Herrn Heinevetter gründlichst studiert hatte, ebenso den Beipackzettel und alles was Mr. Google darüber wusste, war sie beruhigt. Zumindest soweit, dass sie es wagte Lieschen anzurufen. "Keine Masern, Lieschen, hörste ... falscher Alarm. Aber glaub mir, wennste hier gewesen wärst, und die Flecken so richtig gesehen hättest, also leibhaftig und nicht nur über die Kamera ... du hättest ganz gewiss auch an Masern gedacht ...!" 







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