Von Kirschlutschern und Müttern
Ihre Mittagspause verbrachte das Fräulein Grete Meier im nahegelegenen
Park. Das macht sie oft, wenn es im Büro hoch hergeht und sie zum Abschalten
etwas Ruhe braucht. Das war heute allerdings nicht der Grund. Vielmehr wollte
die Grete einfach nur die Oktobersonne genießen. „Is vielleicht das letzte Mal
für dieses Jahr, Berta.“ Berta hatte jedoch etwas anderes vor und so zog
die Grete alleine los. Ihr Ziel war wie immer der Spielplatz, der in der Mitte
des Parkes liegt. Grete mag Spielplätze. Und Kinder. In ihrer großen
Handtasche, die mit allerlei Krimskrams vollgestopft ist, Nützlichem wie
Pflaster und Unnützem wie abgelaufene Fahrscheine, hat sie deshalb stets
Kirschlutscher. Da Grete meist dieselben Spielplätze aufsucht, kennen die
meisten Mütter sie und die Kinder natürlich auch. Trotz allem hält sich die
Grete im Hintergrund. Tröstet schon mal das ein oder andere Kind, wenn es vom
Klettergerüst gefallen ist, verteilt ab und an Pflaster und ihre
Kirschlutscher. Gelegentlich unterhält sie sich auch mit der ein oder anderen
Mutter oder dem Vater eines der Kinder. Aber wirklich nur gelegentlich. Die
Grete sitzt lieber still, beobachtet, hört den Gesprächen zu und erfreut sich
am Lachen der spielenden Kinder. Das reicht ihr. So gern sie Kinder auch mag, sie
hat sich doch mittlerweile an ein Leben ohne Kinder gewöhnt. Natürlich passt
sie manchmal auf den Luis von Hebers auf. Gerne sogar. Aber das sind ja nur
wenige Stunden und im Hinterkopf hat die Grete ja auch immer dieses … kann ich
ja wieder abgeben.
Heute war doch so einiges los auf dem Spielplatz. Klar, dachte die Grete,
die wollen auch in die Sonne, solange es noch geht. Grete setzte sich auf eine
Bank, die etwas abseits gelegen war, aber von der aus sie alles im Blick hatte.
Nachdem sie eine Weile dem bunten Treiben zugeschaut hatte, fiel ihr etwas
Merkwürdiges auf. Vorwiegend die jungen Mütter plauderten miteinander, saßen
teilweise mit ihren Kindern zusammen im Sand, auf eine der Schaukeln oder auf
der Wippe, während die wohl etwas ältere Müttergeneration eher auf den Bänken
saß und fast jede Mutter auch noch für sich alleine. Geld schien bei
diesen Müttern kaum eine Rolle zu spielen, dass sah die Grete an der Kleidung.
Wohl aber die Zeit, denn viele schauten ständig auf ihre Armbanduhr oder auf
ein Smartphone. Während viele der Kinder ungehemmt tobten, sich stritten,
wieder vertrugen, laut lachten, ohne dass sich ihre munter plaudernden Mütter
einmischten, schaute es bei den wenigen anderen Kindern trüber aus. Grete
schnappte hie und da ein „Mach dich nicht dreckig, du musst noch zum
Klavieruntericht“ oder ein “Nein lass das, die Rutsche ist zu gefährlich“ auf.
Auf einer Bank neben der ihren saßen zwei dieser Mütter, Grete schätzte sie auf
Mitte vierzig. „Ja natürlich geht meine Inge auch zum Ballett. Dienstag und
Donnerstag. Gleich ist Chorprobe. Die Inge ist ja so musikalisch. Heute wollte
sie vorher noch unbedingt auf den Spielplatz. Ist mir gar nicht so recht. Aber
was tut man nicht alles für sein Kind!“
Der Grete wurde es schlecht. Natürlich hat sie schon mehrfach mitbekommen
in den Medien, wie überfordert teilweise manche Kinder sind. Freizeitstress
nennt man das wohl. Doch so hautnah miterlebt hat sie das bisher nicht. Ballett,
Chorprobe, Reitunterricht aber keine Zeit für den Spielplatz. Sowas aber
auch. Ob das wohl am Alter der Mütter liegt, oder am sozialen Status? Grete
konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn ihre Pause neigte sich dem Ende zu
und sie musste sich sputen. Vorher verteilte sie aber noch großzügig ihre
Kirschlutscher. Sehr zur Freude der Kinder. Und auch so manche Mutter griff
danach. Und Inge. Aber die konnte sich nur für eine Sekunde daran freuen. Dann
riss deren Mutter ihr nämlich den Lutscher aus der Hand. Mit einem gezwungenen
Lächeln wandte sie sich Grete zu. „Vielen Dank, aber meine Tochter isst so
einen Süßkram nicht. Das ist ungesund und macht dick. Nachher passt du mir
nicht mehr in das Ballettkleid. Stimmt´s
Ingelein?
Später im Büro, während die Grete ihre Computertastatur bearbeitete, schob
sich immer mal wieder die kleine Kindergestalt vor Gretes Augen. Wie sie
einfach nur da stand, die kleine Inge, mit hängenden Armen, sehnsüchtig dem
Lutscher zusah, wie er langsam wieder in Gretes Tasche verschwand und dann
ergeben nickte. Für einen winzigen Augenblick meinte sie sogar, die Inge als
junge Dame zu erkennen. Magersüchtig und in keinster Weise mental robust genug
für diese Welt.
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Ja liebe Grete, so ist das. Die Kinder sind schon in jungen Jahren verplant. Mir ging es auch so. Unser Sohn ist ja in Korea geboren und als wir dann nach 3 Jahren nach Deutschland zurück kamen habe ich das auch erlebt. Meine Nachbarin fragte gleich mal:" Geht Dein Kind auch in Frühenglisch ?" Ich war so geschockt ich konnte nur sagen:" Nein, wir gehen jetzt erstmal in den Wald." Mir tun die Kinder auch so leid, sie können gar nicht mehr Kind sein :-((
AntwortenLöschenViele liebe Grüße
Kerstin
Kirschlutscher - was für wunderbare Erinnerungen. Ein trauriger Beitrag, wo bleibt die Spontanität und die Freiheit ungezwungen toben zu können. Sich dreckig machen und nach Herzenslust toben.
AntwortenLöschenDie Zeiten sind vorbei, Nachhilfe - jedes Kind muss Abitur machen - Klavier, Tanzen, Judo, Sportverein und und und. Meine Kinder hatten noch alle Freiheiten, nur die Schulaufgaben mussten gemacht werden. Am Bach einen Deich bauen und kleine Papierschiffchen fahren lassen, das ist so herrlich.
Die kleine Inge tut mir leid, sie spiegelt das wieder was Eltern wollen. Kleine Erwachsene, die perfekt ins Muster passen - schade
Und wenn man nicht zu den Müttern gehört, die über die vielen Termine jammern können, da wurde ich auch schon mal schief angeguckt. Wir hatten mal ein Jahr, in dem jedes Kind nur einen Termin in der Woche hatte, und ich hatte tatsächlich eine zeitlang ein schlechtes Gewissen. Und dann war ich stolz drauf, mich diesem Verplanen entgegengesetzt zu haben. Denn die Kinder konnten sich spontan verabreden, mussten ihre Spiele zu Hause nicht ständig unterbrechen, und wir hatten die Muße, etwas gemeinsam zu unternehmen. Und das wird mir heute gedankt durch einen guten Zusammenhalt, es war doch wichtig, in dieser Zeit miteinander und nicht nebeneinander her zu leben.
AntwortenLöschenHeute hat zwar auch jedes Kind nur ein bzw. zwei Hobbies, aber die werden jetzt intensiver, d.h. mehrmals die Woche ausgelebt.
Ungefragtes Verteilen von Süßigkeiten fand ich allerdings auch nie in Ordnung. Aber weggeholt habe ich es ihnen nicht, manchmal haben sie sogar selber abgelehnt - zu einem Wurstbrot oder Frikadelle hätten sie allerdings nicht nein gesagt :-)
Liebe Grüße, Petra
Grete, es ist ganz furchtbar, dass die meisten Kinder so verplant sind, dass ihnen keine Zeit zum Spielen bleibt. Und wenn man in die freudlosen Gesichter blickt, dann weiß man
AntwortenLöschengenau, dass sie keine Jugend haben, so wie sie sein sollte. Ich finde es absolut fürchterlich, dass Kinder heute schon auf die Figur achten müssen. Ich kann diese Mütter nicht verstehen. Aber das hört man immer wieder, dass die "alten" Mütter sich nicht kindergerecht benehmen können.
Einen schönen Abend wünscht
Irmi
„Verplante Kindheit“, die immer weniger eine richtige Kindheit ist. Ich kann Gretes Sorge und ihre Gedanken sehr gut nachvollziehen, werde ich doch täglich mit diesem Problem konfrontiert.
AntwortenLöschenAber alles hat zwei Seiten.
Ein Hobby ist für Kinder wichtig, besonders im musikalischen oder sportlichen Bereich.
Für Kinder, die noch auf dem Spielplatz spielen, reicht aber eines aus und ein Nachmittag ist in der Woche genug.
Kinder bewegen sich im freien Spiel heute leider viel zu wenig und da ist so ein Ausgleich gut.
Das freie Spielen oder Herumtoben, ganz ohne Erwartung, ist aber immer noch das Wichtigste, weil dadurch sowohl Kreativität als auch Sozialkompetenz gefördert werden. Außerdem wird auch bei Kindern dann der Kopf frei.
Meist sind es die hohen Erwartungen der Eltern, die bei den Kindern Druck erzeugen...alles sollen sie mitmachen, sich beweisen. Leistungsdruck lässt grüßen.
Ich kenne beide Seiten, die total verplanten Kinder und diejenigen, die völlig sich selbst überlassen sind – für Stunden. Beides ist nicht gut.
Was die Lutscher angeht (hach, was habe ich sie geliebt, diese Kirschlutscher!), es ist völlig in Ordnung, wenn die Mütter und Kinder Grete kennen und umgekehrt.
Im anderen Fall sollte man lieber fragen. Es kann ja wirklich sein, dass ein Kind dies nicht darf oder es bestimmte Absprachen in der Familie gibt.
Aber Grete hat es gut gemeint. Sie wollte ja Inge auf keinen Fall außen vor lassen.
Die Reaktion der Mutter hätte auch anders sein können, höflicher, erklärender.
Gretes Vision von Inge als junges Mädchen ist gar nicht so abwegig. Solche Fälle habe ich auch schon erlebt.
Grete schaut kritisch auf das, was um sie herum geschieht und das gefällt mir. Allzu oft geht man mit Scheuklappen durch die Welt und das Wundern kommt dann plötzlich.
Ein Tipp für Grete:
Ich habe oft kleine Glasmurmeln bei mir. Wenn sich dann Kontakt mit einer Kindergruppe bildet, kann ich diese verschenken. Oft ergibt sich dann ein kleines Spiel und ich habe noch nie eine Mutter oder einen Vater getroffen, die da etwas dagegen hatten.
Lieben Gruß
Enya
Vielen Dank an alle. Es freut mich sehr, dass ihr euch wieder so mit dem Text auseinandergesetzt habt. Und auch Gretes Handlung kritisch betrachtet habt.
AntwortenLöschenLieben Gruß vonner Grete