Das Fräulein Grete Meier fährt zu Lieschen
Das Fräulein Grete Meier stand Dienstagmorgen auf ihrem Balkon und schäumte förmlich über vor Fröhlichkeit und Tatendrang. Keine Minute konnte sie stillstehen. Und das, obwohl sie nachts kein Auge zu getan hatte. Aus gutem Grund, übrigens.
Herr Heinevetter konnte nicht anders. Er lachte sich schier kaputt über die Grete. Doch die bemerkte in ihrem Überschwang rein gar nichts. Auch nicht, dass aus ihrem Mund bestimmt schon zum hundertsten Mal ein "Ich freu mich ja so" in die Welt hinaus tönte.
Eigentlich war es Herr Heinevetter ganz recht so. Denn gestern hatte die Welt für Grete noch rabenschwarz ausgesehen. Und wenn die Grete schwarz sieht, dann ist sie kaum zu genießen.
Schwarz deshalb, weil nichts geklappt hatte. Was natürlich Quatsch war, es ging der Grete einfach alles nicht schnell genug. Und schnell musste es gehen, denn viel Zeit hatte die Grete weder zum Überlegen noch zum Planen gehabt, seit am Samstag das Lieschen angerufen hatte.
"Grete", hat das Lieschen gesagt, "Grete, wenn de jetzt Urlaub hast für drei Wochen, dann kommste zu mir. Ausreden gibbet nich. Das Gästezimmer ist fertig renoviert und eingerichtet. Es schreit förmlich nach dir. Nu, was sagste?"
Sagen konnte die Grete daraufhin erstmal nix. Nur mechanisch mit dem Kopf nicken. Erst nachdem das Lieschen am Bildschirm wild mit den Armen fuchtelte und ein langgezogenes "Greeete, biste noch da, nu sag schon, kommste?" aus ihren Kopfhörern drang, reagierte sie. "Echt jetzt, ach Lieschen, das wär so toll. Aber so schnell, so ganz ohne Plan? Lieschen wie stellste dir das vor?"
Lieschen beugte sich am Bildschirm vor. Fast sah es aus, als wolle sie der Grete tief in die Augen blicken. "Na ganz einfach. Koffer packen und ab zum Bahnhof am Mittwoch. Das wirste ja wohl noch schaffen. Hermann holt dich in Venedig ab."
Nun war die Grete vollends überfordert. "Ja aber ... " Weiter kam sie nicht. "Nix mit aber. Du kommst, basta!"
Grete ließ nicht locker. "Aber der Zug. Fährt da überhaupt einer bis nach Venedig? Und eine Fahrkarte brauche ich doch auch. Und Sonnenmilch und ich habe keinen Badeanzug. Wie ist das Wetter überhaupt bei euch? Kann man Baden? Und was ist mit meinen Blumen? Ach herrjeh Lieschen, das geht doch alles gar nicht!" Vor lauter Aufregung klickte die Grete wild mit der PC-Maus rum und Zack - war die Verbindung abgebrochen. Ganze fünf Minuten dauerte es, bis das Lieschen wieder in voller Pracht auf dem Bildschirm erschien. "Grete, nu mal ganz ruhig. Da ich dich kenne, habe ich bereits alles organisiert. Schau mal in deine E-mails. Ich geh derweil eine Zigarette rauchen." Und schon war sie aus Gretes Blickfeld verschwunden. Nur ein leerer Stuhl war noch zu sehen und die bunten Bilder an Lieschens Wohnzimmerwand.
Grete hielt kurz die Luft an, dann öffnete sie todesmutig ihren E-mailaccount. Und tatsächlich da war sie. Eine mail von Lieschen. Mit Dateianhang. Grete schwirrte beim Lesen der Kopf. Lieschen hatte aber auch an alles gedacht. Von der Abfahrtszeit am Bahnhof über Zugnummer, Sitzplatzreservierung und Ankunftszeit in Venedig, war alles beschrieben. Selbst Marie hatte das Lieschen kontaktiert. Die würde sie pünktlich zum Bahnhof bringen. Der Dateianhang entpuppte sich als Onlinefahrkarte der DB. Einmal Venedig "Hin und Zurück".
Grete saß noch immer perplex vor ihrem PC, als Lieschen lachend wieder auftauchte. "Und, was sagste. Du siehst, Kneifen geht nicht. Alles schon gebucht und bezahlt. Hab ich übrigens schon vor drei Wochen gemacht. Supersparticket der Bahn."
Grete blieb nichts anderes übrig, als zu allem Ja und Amen zu sagen. Nachdem die letzten Einzelheiten besprochen waren und Lieschen aufgelegt hatte, brauchte die Grete noch eine ganze Weile um sich zu erholen. Aber dann ... siegte die Freude über ein Wiedersehen mit Lieschen und Grete kam so richtig in Fahrt. Ihr erster Weg führte zu Marie. Eigentlich wollte sie mit ihr schimpfen, weil Marie ihr nichts gesagt hat. Doch vor lauter Freude umarmte sie das Mädchen nur.
Den ganzen Sonntag war Grete mit Wäschewaschen und Kofferpacken beschäftigt. Dabei stellte sie fest, dass noch soviel besorgt werden musste. Vor allem ein Badeanzug und sommerliche Hosen. Herr Heinevetter wurde engagiert, sich Gretes Blumen anzunehmen und natürlich mussten auch Onkel Günther und Tante Heidi informiert werden. Soweit so gut.
Am Montag begann das Drama Badeanzug. Sie nahm Herrn Heinvetter mit in die Stadt, weil er sich ein paar neue Hemden kaufen wollte. Hätter er geahnt, was auf ihn zukommen würde, er wäre morgens erst gar nicht aufgestanden. Entweder gefiel ein Modell nicht, oder es war nicht in Gretes Größe vorhanden. Die Zeit rann der Grete durch die Finger und immer mehr dunkle Wolken zogen, zusätzlich zu der Sorge um den passenden Badeanzug, an Gretes Horizont auf. Was wenn ich den Zug verpasse? Und wenn Hermann nicht pünktlich ist? Der Zug könnte auch entgleisen. Oh Gott, man hört ja soviel von Gepäckdieben. Dann steh ich in Burano und hab nix anzuziehen. Zwölf Stunden Zugfahrt, wie soll ich das Überleben mit meinem Rücken? Und wenn was in der Firma ist und ich bin nicht zu erreichen? Drei Wochen sind eine lange Zeit ...
Irgendwann war Grete so geschafft und konfus, dass sie nicht mehr klar denken konnte. "Grete, komm runter, trink mal einen Kaffee", dachte sie. Gedacht, getan, Grete gönnte sich mit Herrn Heinevetter im Schlepptau einen spontanen Kaffee in ihrem MittwochsLieschenCafe. Dort kamen so schnell Erinnerungen an Lieschen und die wunderbaren Mittwochnachmittage hoch, die sie hier verbracht hatten, dass Grete von Minute zu Minute ruhiger und gelöster wurde.
Eine Stunde später war ein Badeanzug gefunden, was Herr Heinevetter mit einem erleichterten "Na endlich" kommentierte, und Grete düste mit dem knallbunten Ding in ihrer Tasche nach Hause.
"Lieschen, ich komme!", jubelte sie lauthals, als das Schloss des gepackten Koffers mit einem satten Geräusch zuschnappte.